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Allan Watts
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Woher Sie kommen Als ich ein kleiner Junge war, sagten mir die Leute oft: "Alan, du bist so seltsam. Wieso kannst du denn nicht wie alle anderen sein?" Aber mir erschien das langweilig; etwa so, als würde man jeden Abend dasselbe zu Abend essen. Manches ist seltsam, weil es für jeden offenkundig ist, aber niemand macht sich Gedanken darüber. Und einige der faszinierendsten wissenschaftlichen Entdeckungen wurden von Leuten gemacht, die das "Normale" in Frage gestellt haben. So kann zum Beispiel jeder sehen, dass die Erde flach ist, aber erst die Hinterfragung dieser Annahme machte die moderne Geographie möglich. Was, meinen Sie, ist das Seltsamste, an das ich mich erinnern kann? Ich werde es Ihnen sagen: Das Nichts! Die Vorstellung vom Nichts hat die Menschheit seit Jahrhunderten beschäftigt, vor allem in der westlichen Welt. Es gibt einen lateinischen Spruch: "ex nihilo nihil fit". Übersetzt: "Von nichts kommt nichts". Das heißt, aus dem Nichts kann man nicht Etwas erhalten. Aber das ist ein Trugschluss! Damit wird alles, was mit "nichts" zu tun hat, abgewertet - zum Beispiel mit dem Schlaf, mit Passivität, mit Dunkelheit, mit Untätigkeit und sogar mit dem weiblichen Prinzip. Für mich ist das Nichts - das Leere - enorm mächtig. Ich würde keineswegs sagen: "Du kannst nicht etwas aus dem Nichts erhalten", im Gegenteil, man kann sehr wohl "etwas" aus "nichts" erhalten! Aus diesem Nichts kommt sogar alles! Wie sollen wir uns diesen Unterschied zwischen einem "Etwas" und einem "Nichts" vorstellen? Wenn ich sage, dass ich in meiner rechten Hand einen Stift habe und in meiner linken Hand keinen Stift habe, erhalten wir sofort diese Vorstellung von "haben" entspricht "etwas" und "nicht haben" entspricht" dem "Nichts". Diese Gedankenführung bringt uns zum offensichtlichen Kontrast zwischen dem Festen und dem Raum. Wir stellen uns den (Zwischen)Raum als "nichts" vor und wenn wir über die Eroberung des Weltraums sprechen, schwingt auch eine gewisse Feindseligkeit mit. In Wirklichkeit geht es aber um die Eroberung von Entfernungen. Der Weltraum, das All, - oder was immer sich zwischen der Erde und dem Mond und zwischen der Erde und der Sonne befindet - gilt als "nichts". Um zu verdeutlichen, wie mächtig und wichtig dieses "Nichts" ist, darf ich Ihnen sagen, dass wir ohne das All auch nichts Festes hätten. Ohne den Leerraum außerhalb des Festen würden Sie nicht wissen, wo sich die Außenkonturen des Festen befinden. Diese Situation finden wir auch beim Magnetismus wieder. Ein Magnet hat einen Nord- und einen Südpol; einen Magneten mit nur einem einzigen Pol gibt es nicht! Angenommen wir setzen nun den Norden mit "ist" gleich, und den Süden mit "ist nicht". Wenn Sie einen Stabmagneten haben, können Sie ihn in zwei Teile zerschneiden, aber auch dann werden Sie feststellen, dass Sie an jedem Ende des Teils lediglich einen weiteren Nordpol und einen Südpol geschaffen haben - ein weiteres "Ist" und ein weiteres "Ist-nicht". Damit versuche ich, deutlich zu machen, dass zwischen dem "Etwas" und dem "Nichts" keineswegs ein Konflikt besteht. Es gibt es sehr bekanntes Wort von Hamlet: "Sein oder nicht sein, das ist hier die Frage". Aber das stimmt nicht. Das ist nicht die Frage - denn Sie können das eine nicht ohne das andere haben. Sie können ein "ist" nicht ohne ein "ist nicht" haben, und Sie können kein "Etwas" ohne ein "Nichts" haben. Stellen Sie absolute Leere vor - alles ist leer, leer, leer. Es ist absolut nichts darin, und geht unendlich so weiter. Das All ohne etwas. Aber Sie stellen es sich vor, also sind Sie etwas in ihm. Die Idee, dass es nur das All gäbe und sonst gar nichts, ist völlig abwegig und auch völlig bedeutungslos, denn wir wissen, dass das All und das Feste nur über den Kontrast möglich sind. Wir wissen nur deshalb, was "weiß" ist, weil wir auch den Vergleich mit "schwarz" haben. Wir kennen das Leben im Vergleich zum Tod. Wir kennen die Freude im Vergleich zum Leid, und das Oben im Vergleich zum Unten. All das bedingt sich gegenseitig. Es gibt nicht zuerst das "Etwas" und später dann das "Nichts" oder umgekehrt. "Etwas" und "nichts" sind zwei Seiten derselben Medaille. Falls Sie die Kopfseite einer Münze komplett abfeilen, verschwindet auch die Zahlseite. Das Positive und Negative, das "Etwas" und das "Nichts" sind also unzertrennlich - sie gehören zusammen. Das Nichts ist die Kraft, aus der das Etwas entsteht! Wir meinen, dass die Materie die Grundlage der physischen Welt sei und dass die Materie viele Formen habe. Wir denken bei einem Tisch an Holz und bei einem Topf an Ton. Aber ist ist ein Baum ebenfalls aus Holz gemacht, so wie ein Tisch? Nein! Der Baum ist Holz, er besteht nicht aus Holz. "Holz" und "Baum" sind zwei unterschiedliche Bezeichnungen für ein und dasselbe. Aber in unserem Hinterkopf schlummert die Vorstellung, dass alles in der Welt aus irgendeiner Grundsubstanz bestehe. Seit Jahrhunderten schon wollen die Physiker wissen, welcher Grundstoff das ist. Die Suche nach dieser Grundsubstanz war sogar die Ausgangsbasis für das Entstehen der Physik, und trotz all unserer Fortschritte haben wir darauf noch keine Antwort gefunden. Was wir gefunden haben, ist keine Substanz, sondern Gestalt. Wir haben Formen gefunden. Wir haben Strukturen gefunden. Aber etwas Stoffliches, Substanz, haben wir nie gefunden! Wenn Sie sich durch ein Mikroskop etwas ansehen und erwarten, irgendeine Art von Stoff oder Substanz zu finden, sehen Sie stattdessen Formen, Muster und Strukturen. Sie finden die Form von Kristallen und dahinter Moleküle und hinter den Molekülen finden Sie Atome und danach Elektronen und Positronen zwischen den riesigen Leerräumen. Und wir können uns nicht entschließen, ob diese Elektronen nun Wellen oder Teilchen sein sollen, also nennen wir sie "Teilchenwellen" oder "Wellenteilchen". Aber niemals finden wir etwas Stoffliches, niemals eine Substanz, sondern immer nur Muster. Das Muster kann beschrieben und gemessen werden, aber bis zur Substanz dringen wir nicht vor - ganz einfach deshalb, weil es sie nicht gibt. Etwas sieht nur wie Substanz aus, solange es unscharf und verschwommen ist, wenn wir mit dem bloßen Auge darauf blicken. Aber sobald wir dieselbe Sache unter dem Mikroskop betrachten, sehen wir wieder Formen. Sie können sich die gesamte Natur ansehen, und Sie werden nie etwas anderes finden als Form. Was gibt sonst noch auf der Welt außer der Form? Offensichtlich befindet sich zwischen den Formen eine Leere. Und deshalb gehören Form und Leere zusammen. Im Buddhismus gibt es zum Beispiel die Aussage: "Was Leere ist, ist Form und was Form ist, ist Leere". Form ist von der Idee der Energie nicht zu trennen und vor allem, wenn sie sich in einem klar beschriebenen Bereich bewegt, erscheint sie uns feststofflich. Wenn Sie zum Beispiel einen elektrischen Ventilator laufen lassen, verwischen sich die Leerflächen zwischen den Schaufeln, und Sie können keinen Stift mehr dazwischenstecken. Sie können auch keinen Stift oder Finger in den Fußboden stecken, weil sich der Fußboden zu schnell bewegt. Da unten haben Sie im Prinzip "nichts" und "Form" in Bewegung. Wenn uns der "gesunde Menschenverstand" nahelegt, dass die Welt aus einer Substanz bestünde, befinden wir uns somit völlig auf dem Holzweg! Es gibt keine Substanz. Stattdessen haben wir Form und Leere. Die meisten Energieformen sind Schwingungen, ein ständiges Pulsieren. Die Energie des Lichts oder die Energie des Klangs schaltet ständig zwischen existent und nichtexistent um. Beim Licht - sogar bei einem starken Licht, wie bei Wechselstrom - merken Sie diese Unstetigkeit nicht, weil Ihre Netzhaut nur den Eindruck des existenten Impulses wahrnimmt. Dasselbe gilt für Klang. Eine hohe Note erscheint kontinuierlicher, weil die Schwingungen schneller sind als bei einer tiefen Note. Dieser Prozess ist eine einzige Wellenbewegung - und wenn wir an Wellen denken, denken wir auch an Wellenkämme. Das ist für uns der höchste Punkt des Wellenberges. Die Kämme ragen aus dem darunterliegenden einheitlichen Wasserbett heraus, und deshalb nehmen wir sie als Formen - als Wellen - wahr. Aber wir können nicht etwas Herausragendes - den Kamm, das Konvexe - haben, ohne auch das Gegenteil, das Konkave. Dieses nennen wir das "Wellental". Damit etwas herausragt, muss auch etwas hineinragen. Wenn wir nur einen Teil der Welle hätten - also nur nach oben oder nur nach unten - gäbe es keinen Kontrast. Ihre Sinne würden dann nichts wahrnehmen können. Dasselbe gilt für das Leben im allgemeinen. Wir sollten eigentlich keinen Unterschied zwischen Existenz und Nichtexistenz machen, weil die Existenz die Wechselfolge zwischen einem wiederkehrenden "jetzt sieht du's" und einen "jetzt siehst du's nicht" ist. Dieser Kontrast vermittelt uns den Eindruck von "etwas".
Nun sind bei Licht und bei hohen Tönen die Wellen so außerordentlich schnell, dass wir das dazwischen befindliche Intervall nicht sehen bzw. hören können. Es gibt jedoch andere Umstände, bei denen die Wellen äußerst langsam sind, zum Beispiel bei der Wechselfolge zwischen Tag und Nacht, zwischen Tageslicht und Dunkelheit und zwischen Leben und Tod. Diese Wechselfolgen sind ebenso notwendig für das Bestehen des Universums wie die schnellen Bewegungsfolgen bei Licht und Ton und wie die feststofflichen Kontakte, bei denen dieses Wechselspiel so schnell abläuft, dass wir nur die Kontinuität beziehungweise die "existente" Seite wahrnehmen. Dass auch noch eine "nichtexistente" Seite mitspielt, entzieht sich uns, aber sie wirkt dennoch mit, genauso wie am Kern des Atoms enorme Leerflächen bestehen.
Das eine bedingt das andere, so wie ein Wellental einen Wellenkamm bedingt, und sich die Leere im Festen manifestiert, und der Hintergrund die Abbildung möglich macht.
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