Es gibt einen äußerst wichtigen Bereich im menschlichen Leben, in dem die Vorbildung entweder nicht vorhanden oder sogar noch schlimmer als nichts ist. Ich spreche vom Bereich der geschlechtlichen Liebe.
Viele Menschen zeigen in ihrem Sexualleben sogar noch eine größere Unreife als in anderen Lebensbereichen. Deshalb sehen Ärzte so viele Patienten, deren emotionaler Stress eng mit Unreife im Bereich des Geschlechtlichen zu tun hat. Es gibt unzählig viele Leute, die diesen Lebensbereich verkorkst haben oder sich davon verkorksen haben lasen.
In jedem Bereich muss die Reife erst erlernt werden. Wie kann man jemandem Unreife in geschlechtlichen Dingen vorwerfen, wenn nie eine vernünftige Anstrengung unternommen wurde, diesem Menschen - Mann oder Frau - Reife beizubringen? Liegt die Verantwortung denn nicht bei der Gesellschaft und ihren Erziehungseinrichtungen, angefangen bei der Familie, über die Schulen und kirchlichen Stellen?
Gemessen an anderen menschlichen Trieben, ist der Geschlechtstrieb vergleichsweise schwach. Der biologische Drang nach Nahrung ist wesentlich ausgeprägter. Dasselbe gilt für den Drang nach Sicherheit und Geborgenheit.
Jemand kann sehr lange, ein Leben lang sogar, ohne eine Befriedigung des Geschlechtstriebes auskommen, doch ohne Nahrung und Sicherheit wird er nicht lange überleben können.
Die relative Bedeutungslosigkeit des Geschlechtstriebs zeigt sich auch in der gemeinschaftlichen Unternehmung, die wir "Zivilisation" nennen, welche letztendlich den Versuch darstellt, Nahrung und Sicherheit zu bieten - nicht aber geschlechtliche Befriedigung! Wenn der Geschlechtstrieb der stärkste unserer biologischen Triebe wäre, würde die Zivilisation mit Sicherheit Mittel und Wege gefunden haben, um diesem Trieb Rechnung zu tragen.
Da die biologischen Triebe aber nun mal so sind, wie sie sind, und da die Zivilisation so ist, wie sie ist, kann jedermann beim Essen wahllos seiner Lust frönen und auch bei der Schaffung von Sicherheit die unterschiedlichsten Wege einschlagen, es ist aber schon seit Jahrtausenden klar, dass die Grundfesten der Gesellschaft zerstört würden, wenn sich jedermann im sexuellen Bereich bedenkenlos verhielte. Die gesellschaftlichen und ökonomischen Folgen ungezügelter Promiskuität wären verheerend.
Somit sind gewisse Beschränkungen also notwendig. Da wir auf die wirtschaftlichen Vorteile der Zivilisation nicht verzichten wollen, bleibt uns nur eine Wahl: Wir müssen den Geschlechtstrieb in klare Bahnen lenken. Und genau diese Bahnen sind es, die uns unsere sexuellen Nöte bereiten.
Die einzige Art und Weise, etwas so Fundamentales wie einen biologischen Trieb an die Kandare zu nehmen, besteht in einer guten Erziehung, die dem Menschen aufzeigt, wie er innerhalb dieser Bahnen mit diesem Trieb umgehen kann. Die Krux war, dass die Zivilisation diesen Trieb bereits lange vorher zu zügeln hatte, bevor sie die Weisheit entwickelt hatte, einen entsprechenden Erziehungsprozess anbieten zu können.
Wir brauchen uns deshalb nicht zu wundern, dass wir uns mit dem Geschlechtlichen so schwertun. Man muss sehr aufpassen, wenn man in eine Flasche, in der sich eine hochexplosive Flüssigkeit befindet, einen Korken steckt. Entweder fliegt der Korken in die Luft oder die Flasche platzt.
Je mehr man sich mit einem Thema wie dem Geschlechtlichen befasst, umso erstaunlicher wird, dass wir es überhaupt einigermaßen schaffen. Die ganze Menschheit wurstelt sich irgendwie durch.
Sigmund Freud und die Psychoanalytiker vertraten die Auffassung, dass sich alles um Sex drehe. Es stimmt zwar, dass das Geschlechtliche viele Nöte bereitet, aber die Haupttriebfeder ist es nicht. In biologischer Hinsicht handelt es sich um eine relativ kleine Feder, welche sich aufgrund der folgenden Faktoren an allen Ecken und Enden bemerkbar macht:
Wer sexuell nicht "aufgeschlossen" ist, ist nicht "in". Zumindest hierzulande. Gemeint ist damit eine gewisse Lockerheit im Bereich sexueller Tabus.
Natürlich gibt es unterschiedliche Schattierungen, aber diese Art von "Aufgeschlossenheit" wird nicht selten mit Reife verwechselt. Dabei verstehen wir unter Reife die Fähigkeit, den Lebensanforderungen mit einem Minimum an Schwierigkeiten und einem Maximum an Freude gerecht zu werden.
Im Wesentlichen gibt es zwei Seiten der so genannten "Aufgeschlossenheit". Einige Menschen halten sich nur an die eine Seite, andere an beide Seiten.
Der erste Seite besagt, dass alles Geschlechtliche etwas besser Stillzuschweigendes sei, das man sogar in der Ehe eigentlich nur duldet. Diese "Ittigitt-Einstellung" kann die Nöte nur vergrößern.
Der zweite Teil besagt, dass das Geschlechtliche immer Hochsaison habe, dass die Bahn frei sei und das Spiel bei jeder Gelegenheit und mit allen Raffinessen zu spielen sei.
Dieser zweite Teil ist ein großer Fehler. Viele solcher "Spieler" haben ihr Lehrgeld zahlen müssen. Der gepflückte Apfel erweist sich fast immer als weniger schmackhaft, als es den Anschein hatte, als er noch am Baum hing, und nicht selten ist er wurmstichig. Der Apfeldieb merkt zu spät, dass es leichter gewesen wäre, sich von Schwierigkeiten fernzuhalten, als aus ihnen wieder herauszukommen.
Ein Mensch mit einem starken Geschlechtstrieb, den er aber unterdrückt und verdrängt, kann durchaus ernsthafte, akute und chronische Angstzustände erleiden.
Doch der andere, der sich in diesem Bereich einer "aufgeschlossenen" und "offenen" Lebensweise hingibt, wird von ebenso großen Angstzuständen geplagt.
Dabei ist Unrechtmäßigkeit im Tun noch nicht einmal das schlimmste aller Szenarien. Es gibt die persönlichen Nöte, dass ein Lügengeflecht aufgedeckt wird, es gibt die Schuldgefühle. Es gibt zerrüttende Familien oder mit in das Schlamassel hineingezogene Kinder.
Was der "aufgeschlossene" Erwachsene sich selbst antut, ist im Wesentlichen ja noch seine Sache. Aber wenn andere aufgrund gestörter Gefühlsmuster und Gewohnheiten Mitmenschen mit in das Elend hineingezogen werden, ist es nicht mehr nur seine Sache.
Ich habe in meiner Praxis die schlimmsten Fälle erlebt; einige Personen dachten gar an Selbstmord.
Doch auch wenn es so schlimm nicht kommt, haben wir es hier mit einem Verhalten zu tun, das zu einer psychosomatischen Krankheit führen kann.
Ich habe deshalb über die "Aufgeschlossenheit" gesprochen, weil sie so häufig mit "Reife" verwechselt wird. Darüber hinaus gibt es aber noch andere Bereiche der sexuellen Unreife, die sogar noch einen größeren Schaden anrichten, als die angebliche "Aufgeschlossenheit".
Sexuelle Schwierigkeiten in der Partnerschaft sind ziemlich häufig; sie rufen emotionellen Stress hervor und haben eine lästige Neigung, die zur Trennung führende Kluft zu verbreitern. Solche Schwierigkeiten gehen immer auf sexuelle Unreife (eines der Partner oder beider Partner) zurück. Natürlich gibt Unterschiede; wir wollen hier nur auf einige Fälle eingehen.
Die Schwierigkeiten beginnen nicht selten in den Flitterwochen, welche für viele Neuvermählte das Ende des zurechtgebastelten Wunschbildes darstellen. Dann folgen gegenseitige Vorwürfe. Wenn Mann und Frau in den ersten Jahren, in denen die Erfahrungen irgendwo zwischen Erfolg und Scheitern liegen, fünfe gerade sein lassen können, können sie den Regenbogen, den sie sich anfangs erhofften und nicht zu Gesicht bekamen, nach dreißig Jahren vielleicht doch noch sehen.
Die meisten jungen Männer haben nach dem Zusammenziehen die Vorstellungskraft von Kaninchen, die romantischen Fähigkeiten eines Faultiers und die sexuellen Fähigkeiten einer Auster. Mischt man diese Kombination mit Ängsten, Unbehaglichkeit und Fehlinformationen, welche die junge Frau mitbringt, so kommt ein fürchterliches Gebräu zustande.
Falls das Paar Verständnis, Zuneigung, guten Willen und Freundschaft im Reifepaket hat, ist zwar nicht Hopfen und Malz verloren und das dem Kentern nahe Schiff kann doch noch gerettet werden, aber viele Paare verfügen leider in manch anderen Bereichen über die gebotene Reife, im geschlechtlichen Bereich fehlt sie jedoch gänzlich, und so führt die Desillusionierung des Anfangs unweigerlich zum endgültigen Scheitern.
Wenn die sexuelle Unreife einen der Partner, oder beide, in das Sprechzimmer eines Arztes bringt, weil sich psychosomatische Beschwerden bemerkbar gemacht haben, ist oft die Rede von der "Frigidität" der Frau. Über vierzig Prozent der verheirateten Frauen, die ich in meiner Praxis sehe, haben keine Freude beim Zusammensein mit ihren Ehemännern. Keiner der beiden ist glücklich.
Doch diese "Geschlechtskälte" ist nicht selten das Versäumnis des Mannes. Das unbeholfene, selbstsüchtige Vorgehen des Mannes - nicht nur in den ersten Phasen des Zusammenseins, sondern oft während der gesamten Ehedauer - führt häufig zu einer solchen Frigidität.
Solche Ehepartner sind oft auch in anderen Lebensbereichen unreife Kinder. Geistig sind sie oft auf dem Stand eines Achtjährigen stehengeblieben, auch wenn sie sich körperlich so weit entwickelt haben, dass auf ihrer Brust Haare wachsen. Viele in anderen Bereichen hervorragende Frauen wurden durch einen unfähigen und ungeschickten Mann in chronische Krankheiten und chronisches Unglücklichsein geschleudert. Sie versucht vielleicht, die Sache philosophisch zu nehmen, aber sie ist der Situation nicht gewachsen.
Bei einer kleineren Anzahl von Frauen geht die Frigidität auf eine falsche Erziehung in der Kindheit zurück. Das Mädchen wächst in dem Glauben auf, dass Sex schmutzig sei und sie entwickelt eine Abneigung dagegen....
Sexuelle Reife beginnt mit der Einstellung, dass Sex an sich nichts Schlechtes ist und dass er, richtig praktiziert, das Leben der Partner bereichern und reifer machen kann.
"Richtig praktiziert" - darauf kommt es hier an. Gemeint ist damit die Verantwortung, die das Geschlechtliche mit sich bringt, wobei bestehenden Beschränkungen als notwendig begriffen werden, solange die Menschen in einem Umfeld leben wollen, das wir als "Zivilisation" bezeichnen.
Natürlich sind auch die gesetzlichen Vorgaben zu beachten, wenn man sich von Schwierigkeiten fernhalten will. Das ist die eine Seite der Reife.
Zum anderen bedeutet "richtig praktiziert" die Fähigkeit, den sexuellen Aspekt des Lebens mit einem ernsthaften Partner zu einer befriedigenden, kompletten und erfüllenden Erfahrung für beide zu machen.
Das ist die andere Seite der Reife: Die Entwicklung der Fähigkeit, dem Leben die höchste Freude abzugewinnen ..."